Gastbeitrag von Mario Schönherr
Während die Pharmaindustrie noch fieberhaft nach dem gepriesenen Impfstoff zur Bekämpfung des Corona-Virus sucht, sprießen die heilsbringenden post-coronalen Medikationen zur Stärkung des wirtschaftlichen Immunsystems wie die heiß geliebten Schwammerln aus dem Boden. Was den Touristikern nun tatsächlich zur Heilung dieser gewaltigen Wunde hilft, wird sich aber erst zeigen.
Der furchtlose und zielstrebig marschierende Wirtschaftsriese Tourismus kommt durch einen gewaltigen Blitzschlag aus heiterem Himmel zum Stillstand. Vollkommen unverschuldet und ohne Vorwarnung. Schnell wird bewusst, wie zart gewoben das wirtschaftliche Netz dieser so stolzen und vor Zuverlässigkeit strotzenden Branche ist. Es zeigt auch wie stark vernetzt sie sind, die viele Fäden der gesamten Wirtschaft, die aus allen Bereichen und Branchen kommend, ein nahezu unzerstörbares Tau flechten, das den gewaltigen Tourismusdampfer von einem sicheren Hafen zum nächsten schleppt.
Wie konnte das jetzt passieren? Offensichtlich war man ja gut aufgestellt. Man hat alles richtig gemacht, hatte soliden und stetigen Zuspruch an Gästen (naja, besser hätte es immer laufen können). Doch mit einem Schlag ist alles vorüber. Und damit verändert sich das Tagwerk eines Touristikers massiv: man muss nun Unterlagen sammeln, Förderanträge studieren, Banktermine wahrnehmen, Pressekonferenzen verfolgen, Zahlenwerk konstruieren und um Staatshilfen betteln. Und alles nur dazu, um das eigene Lebenswerk nicht zu verlieren.
Aber: Nach einer langen, bangen Phase des Wartens taucht er nun endlich auf: der berühmte Silberstreif am Horizont. Oder vielmehr und passender dargestellt, das grell leuchtende Licht am Ende des Tauern-, Karawanken- oder Brenner-Tunnels. Es geht weiter: Hotellerie und Gastronomie atmen auf. Endlich dürfen sie wieder zurückkommen, die ach so geschätzten und verehrten Urlauber. Ok, wir waren in den letzten Jahren nicht immer ganz so zuvorkommend, preiswert und gastfreundlich, wie sie es sich erwarten durften. Aber sie kamen dennoch. Mal mehr, mal weniger. Und sie kommen auch jetzt wieder. Schon unmittelbar nach den angekündigten Lockerungen und Öffnungsperspektiven, die uns die politischen Krisenmanager gewährten, klingelten die Telefone, knatterten die Faxe (ja, die gibt’s noch) und blinkten E-Mail-Accounts. Sie bescherten reichlich Buchungen für den, fast schon abgeschriebenen, Sommer. Man ist wieder im Rennen. Die Grenzbalken gehen nun hoch und lassen das Spiel in bewährter Manier weiterlaufen. Damit der Rubel wieder rollen kann.
Das Sommermärchen 2020?
So, oder ganz ähnlich könnte die Einleitung zu einer sehr schönen Geschichte über die Wiedereröffnung des Tourismus formuliert werden. Und zeitgleich mit dem Öffnungsperspektiven poppt sie auf, die Fülle an Informationen, Vorschriften, Empfehlungen und Masterplänen, wie denn jetzt im Beherbergungs- und Dienstleistungsgewerbe mit dem Gäste zu verfahren sei.
Vielfältig und umfangreich sind die Informationsmaterialien, die von Interessenvertretungen, Tourismusorganisation und Kommunen geschaffen wurden, um die „neue Normalität“ im Umgang mit dem Gast zu regeln. Abstandshalter, Plexiglaskojen, Atemschutz, Spukschutz, kontaktlose Infopoints und vieles mehr – dargestellt auf Webseiten, Postern, Postkarten und in Radiospots – werden eingesetzt, um exakt zu regeln, wie man sich dem Gast gegenüber zu verhalten hat und vor allem, was zu tun ist, um eine zweite Welle des schlimmstenfalls zurückkehrenden Horrorvirus abzuwenden.
Einigkeit herrscht allerorts, wer in jedem Fall in vielen Wellen zurückkehren sollte: Es sind die Gäste. Selten zuvor hat man sich so auf die unterschiedlichen deutschen Dialekte gefreut, wie aktuell im österreichischen Tourismus. Es ist ja mathematisch und statistisch belegt, dass der Ertrag aus den Aufenthalten und der Konsumation der österreichischen Gäste alleine, die ganzen gestundeten Kredite und verzögerten Abgaben nicht bezahlt werden können. Und es ist erfreulich, dass diese Freude nicht unerwidert bleibt. Auch von Seiten der bundesdeutschen Urlauber ist die Vorfreude auf den langjährigen Stammplatz am österreichischen Campingplatz, dem schon so vertrauten Vermieter der Privatpension am See oder auch den gewohnten Ausblick aus der großzügigen Zimmerfront des Luxushotels zu spüren. Auch wenn die Zeiten längst vorüber sind, wo wir das Exklusivrecht auf deren schönste Auszeit des Jahres hatten, sind die Vorzeichen positiv. Mal sehen, was geschieht, wenn aber auch unsere südlichen Mitbewerber Ihre Grenzbalken öffnen und sich wieder am Markt anpreisen können?
Brachte die Open-Window-Phase nur ein laues Lüfterl?
Also kausal könnte man zusammenfassen: Ende (der Krise) gut, alles gut? Gut möglich! Aber was ist nun eigentlich hängengeblieben von den zahlreichen Erkenntnissen, die am Beginn und während des Lockdowns zu Tage traten? Was hat sich im Mindset eingenistet, als alle zu einem kollektiven Nichtstun verdammt wurden? Wie wurde dieses offene Fenster des Stillstandes genutzt um die festgefahrenen Gewohnheiten auch aus dem entlegensten Winkeln unseres Denkapparates rauszublasen?
Natürlich war man anfänglich gefangen. In einer Schockstarre. In einem Zustand der Hilflosigkeit. Der Kampf ums nackte (finanzielle) Überlegen hat ganz neue Energien mobilisiert. Von allen Seiten kamen nun Empfehlungen, Tipps, Beratungsangebote, um den finanziellen Schaden so gering als möglich zu halten. Kaum war das durch, überhäuften sich in der nächsten Phase die Coaching-, Schulungs- und Seminarangebote. Natürlich alles via Zoom. Es herrschte (und herrscht) ein gewaltiges Angebot, um sich fit für den Neueinstieg zu machen. Auch wenn ein Zoom-Webinar niemals an die Qualität eines Live-Seminars herankommt, bietet es doch eine gute Gelegenheit um zu erfahren, wohin der weitere Weg führen muss. Alles wird dabei bis zum Exzess zelebriert und geschult: Der richtige Umgang mit dem Post-Corona-Gast, die Hygienebestimmungen, das Speise- und Getränkeangebot, das richtige Tragen der Mund-Nasen-Masken, u.v.m.
Was jedoch in all diesen Betrachtungen ein wenig zu kurz kommt, ist das Ursächliche. Das Motiv für den jährlichen Urlaub und die Lust auf das Reisen. Sind das nicht ganz elementare Dinge im Leben eines jeden Menschen? Ganz egal ob es die Reise in ferne Länder ist oder das Wochenende am Baggersee: die Sehnsucht nach räumlicher Veränderung, nach der Entdeckung von Neuem und dem Ausbruch aus dem gewohnten Umfeld sind ganz wesentlichste Antriebsfedern. Findet all das noch Beachtung in der Installation der Maßregeln für die „neue Normalität“ im Tourismus?
Natürlich ist es wichtig, dass man dem Gast signalisiert, dass alle Vorkehrungen für die Sicherheit getroffen wurden. Natürlich gehört es zum professionellen Auftritt eines jeden Gastgebers, seinem Gegenüber zu veranschaulichen, dass alles unternommen wird, um ihn vor allfälligen Schäden zu bewahren, wenn er einem Haus sein Vertrauen überantwortet.
Aber ergänzend dazu sollte niemals vergessen werden, dass jeder Gast auf der Flucht ist. Auf der Flucht vor seinen eigenen vier Wänden, in die er über Wochen kaserniert wurde, auf der Flucht vor der Enge des eigenen Arbeitszimmers (so es vorhanden war) und dem Großraumbüro vorgezogen werden musste. Auf der Flucht vor allen digitalen Features und Kommunikationskanälen, die es uns zwar problemlos ermöglichten, mit allen unseren Kollegen auf einmal in eine virtuelle Konferenz zu treten, aber dennoch ein neues Gefühl von Kontaktlosigkeit in uns auslöste. Denn es fehlte in dieser neuen Welt, rund um Homeoffice, Tele-Working, Videochatting und noch vielem mehr, eine ganz wichtige Komponente: Die Großzügigkeit.
Die Großzügigkeit, sich zu einem kurzen Vier-Augen-Gespräch mit einem vertrauten Kollegen in die Kaffeeküche zu stellen, die Großzügigkeit schnell mal mit dem Liebsten auf einen Chai-Latte in das vertraute kleine Straßencafe ums Eck zu gehen. Die Großzügigkeit eine befreundete Familie zum Zeichen der langjährigen Freundschaft ein saftiges Steak am neuerworbenen Luxus-Grillgerät zu braten. Es fehlte die Großzügigkeit, seinen Freuden und Plänen spontan nachzukommen. Sei es der Drang nach baulichen Veränderungen und Umgestaltungen zur Verschönerung des Eigenheims, der Drang nach einem kurzen Sprung ins Wasser, nach einer ausdauernden Laufeinheit im nahegelegenen Wald oder einfach dem Draußen-im-Park-sitzen und den Frühling beim Erwachen zu beobachten.
Die neue Form der Gastlichkeit
Darum ist es genau jetzt an der Zeit, sich als Gastgeber dieser Sehnsüchte zu bedienen: Die Renaissance der Großzügigkeit sollte endlich wieder einziehen. Nicht nur bei den Gästen, sondern auch bei allen leidenschaftlichen Gastgebern. Es gilt genau darüber nachzudenken, welchen Entbehrungen waren die Gäste in den letzten Wochen ausgesetzt. Welche Sehnsüchte wurden dabei geweckt? Welche Träumereien und Inspirationen können nun zur Realität reifen?
Und jetzt, genau in dieser Phase bietet sich viel Freiraum für eine ganz neue Form der Gastlichkeit. „Werden Sie zum Fluchthelfer und betten Sie Ihre Gäste in ein üppiges Bett der Großzügigkeit!“ könnte ein Schlachtruf lauten. Machen Sie es spürbar, dass wir alle erkennen mussten, wie wertvoll und wichtig uns die Großzügigkeit der uneingeschränkten Reisemöglichkeit ist. Wie erquickend es ist, zu jeder beliebigen Zeit an einem schön gedeckten Tisch Platz zu nehmen oder ohne Einschränkungen die Weite eines Landes zu sehen und die Kraft der Natur zu inhalieren.
Diese Renaissance der Großzügigkeit muss wieder Einzug finden. Nicht nur in den Köpfen, sondern auch auf den Speisekarten, in den Zimmern, in den Freizeitprogrammen und überall dort, wohin es Gast mit seinen Fluchtplänen verschlägt.
Die Großzügigkeit reduziert sich aber niemals auf eine einfallslose Rabattschlacht. Das leidige „Kauf 3-Zahl 2“-Angebot verfehlt die gepriesene Großzügigkeit deutlich und wäre ein fatales und gänzlich falsches Signal. Und nicht nur das. Es würde eine Jahrhundertchance verspielen. Denn in dieser Phase der Neuorientierung muss man offensiv, inspirativ, mit Kreativität und Einfühlungsvermögen vorgehen. Gewinnen werden die, die reinhören in die (nicht immer laut artikulierten) Bedürfnisse und die erkennen, von welchen Träumen die herannahende Schar an Gästen begleitet werden.
Und dies gilt nicht nur für Betriebe, sondern auch für Destinationen. Bei den Gästen wurden lieb gewordene und vertraute Verhaltensmuster zerstört und neue Gewohnheiten zur Notwendigkeit erhoben. Das betrifft Urlaubszeiten, Dauer von Aufenthalten, Auswahl von Reisezielen und der Definition von Urlaubsthemen. Jetzt werden die Karten am reichlich gedeckten Gabentisch des Tourismus neu gemischt. Das beste Blatt werden jene haben, die nicht bluffen und pokern, sondern großzügig die besten Asse an neuen Angeboten ausspielen können.
Mario Schönherr arbeitet als Projektmanager, Moderator, Keynote-Speaker, Redakteur und Tourismusberater in Kärnten und München.
Info: www.marioschoenherr.com
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